Stadtrundgang: Pirna
Ich muss zum Bahnhof. Und wie immer, wenn ich zum Bahnhof muss, bin ich spät dran. Ich versuche, die Haustür zu öffnen, aber ausgerechnet jetzt klemmt sie, das kann doch nicht wahr sein. Genervt lasse ich die Klinke los, gehe rüber ins Schlafzimmer und öffne das Fenster. Dann eben so. Ich steige aufs Fensterbrett, schiebe meine Beine auf die andere Seite, sodass sie über der Gasse baumeln, und zögere kurz – wenn ein Tag damit beginnt, dass man durch ein Fenster klettert, dann kann alles passieren. Ungeschriebenes Gesetz. Aber was soll schon passieren, ich muss ja nur fix zum Bahnhof. Also, nützt ja nichts: ich springe aus dem Fenster, ohne mich umzuschauen, und lande unsanft in der Gasse. Prompt ertönt rechts von mir ein Fluchen, Poltern, Quietschen, und ich springe gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor die Postfrau auf ihrem Fahrrad an mir vorbeidonnert. Ihr Fahrrad (oder ihre Zähne?) klappern über das Kopfsteinpflaster wie lose Steine in einer Schubkarre. „Ich h-h-h-aaassssseee diese G-g-g-aaaassseee“, entfährt es der Postfrau und sie donnert von dannen, bevor ich nach unserer Post fragen kann. Das fängt ja gut an, denke ich, und laufe hastig los, Richtung Fischkopfbrunnen und dem durstigen Erlpeter. Hier ist alles friedlich: vor dem Brunnen parkt ein Auto und ein alter Mann sitzt auf dem Brunnenrand, an die alte Sandsteinmauer gelehnt und döst vor sich hin, während er mit einem Gartenschlauch das kalte Trinkwasser zapft. Wenigstens hier ist alles so wie immer. Oder? Ich folge dem Schlauch mit meinem Blick, er führt vom Wasserhahn durch ein aufgekurbeltes Seitenfenster direkt in das Auto. Dort stehen kästenweise Wasserflaschen, die aber alle schon voll gefüllt sind, genauso wie die halbe Fahrerkabine. Das Wasser sprudelt munter weiter, kleine Wellen klatschen von Innen gegen die Autoscheiben. Am Schalthebel schwimmt ein Schwarm kleiner Fische vorbei und verschwindet unterm Sitzpolster. Ich blicke auf und der silberne Fischkopf am Brunnen zwinkert mir verschwörerisch zu. Wäre ich doch bloß nicht aus dem Fenster gestiegen, denke ich und und eile weiter, zur Kirche rüber, über die alten Gehwegplatten, vorbei an krummen Torbögen und der dunklen, dichten Hecke. Darunter zwitschert es zart und geheimnisvoll, ein leises Tuscheln, Rascheln, und aus dem Augenwinkel sehe ich schwarze Knopfaugen blitzen, orange Schnäbel, Mitternachtsgefieder. Es sind die Amseln, die hier in ihrer Hecke alles zusammentragen, was sie bei ihren Flügen durch die Stadt finden können: Geheimnisse, Gerüchte, Skandale.
„Haste gesehen….“
„Haste gehört…!“
„Die vom Schloßberg…“
Ich spitze die Ohren. Was ist mit denen vom Schloßberg?
Doch genau in diesem Moment stürzt sich ein Falke aus seiner himmlischen Koje oben im Kirchturm hinunter und fegt durch die Gasse. Krallen blitzen, Laub wirbelt auf, Feder fliegen, und das leise Tuscheln wächst zu einem empörten Meckern an. Da mische ich mich besser nicht ein, denke ich und eile weiter, quer über den Marktplatz, wo man im Winter schon mal knietief durch Glühwein watet und im Sommer gegen den Strom der Touristen anschwimmen muss. Heute ist der Platz fast leer, nur ein paar Marktbuden stehen noch, und neben dem Bäckerauto steht Canalettos Ur-ur-ur-urenkel und malt ein gedeckten Tönen den Textil-Discounter an der Ecke, ohne die Touristen zu beachten, die ihm neugierig zuschauen. „Malen Sie auch Selfies?“, will eine wissen, doch die Antwort des Malers höre ich nicht mehr, denn entschlossen, es noch pünktlich zum Bahnhof zu schaffen, biege ich in die Einkaufsstraße ab, gehe zehn Schritte und begegne prompt allen meinen Nachbarn auf einmal. Ein großes „Hallo! wie geht es euch! Übrigens, dein Fenster steht offen!“ ertönt, wir wechseln ein paar Sätze, und anderthalb Stunden später eile ich weiter. Wohin eigentlich? Ach, zum Bahnhof. Na, jetzt aber schnell. Vielleicht ist ja unten an der Elbe weniger los. Ich eile durch die Unterführung, stoppe vorm Radweg und lasse die perfekt stromlinienförmigen, vakuumverpackten Männer auf ihren Rennrädern an mir vorbeirauschen. Dann noch 10 Schritte, und ich stehe an der Elbe. Auch auf dem Fluss ist viel Verkehr, ein Schwarm bunter Ruderboote tummelt sich auf dem Wasser und automatisch verfalle ich in einen Gleichschritt mit den regelmäßigen Paddelzügen, hau-ruck, hau-ruck, die Elbe schwappt im Takt gegen das steinige Ufer. Es ist ein beruhigender Rhythmus, und den Graugänsen, die es sich auf dem Elbeparkplatz bequem gemacht haben, ohne ein Ticket zu lösen, fallen die Augen zu. Na, hoffentlich kommt niemand vom Ordnungsamt vorbei, denke ich, doch während ich so grüble, nimmt der Paddel-Rhythmus an Fahrt auf, hauruck hauruck, die Ruderer durchpflügen das Wasser mit hektischen Schlägen, ich muss mich beeilen, jetzt noch Schritt zu halten, doch dann erheben sich die Ruderer drüben im Wasser mit einem letzten HAUUURUCK und einem kraftvollen Paddelschlag samt ihrer Ruderboote in die Luft. Die Ruderer jubeln und biegen kurz vor der Brücke scharf rechts nach Copitz ab. Sie verschwinden, durch die Straßenschlucht rudernd, hoch in Richtung Kaufland. Stimmt, einkaufen müsste ich eigentlich auch noch, fährt es mir durch den Kopf, aber nein, ich muss zum Bahnhof, jetzt sind es nur noch ein paar hundert Meter; trotzdem werden meine Schritte immer langsamer. Ich bleibe stehen. Wo will ich eigentlich hin? Ich blicke über den Fluss, zurück zur Stadt, am Elbufer entlang. Wohin ich mit dem Zug fahren wollte, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ist aber nicht weiter schlimm, denn angekommen bin ich ja schon.