Juliana

Stadtrundgang: Pirna

Ich steige aufs Fensterbrett, schiebe meine Beine auf die andere Seite, sodass sie über der Gasse baumeln, und zögere kurz – wenn ein Tag damit beginnt, dass man durch ein Fenster klettert, dann kann alles passieren. Ungeschriebenes Gesetz. Aber was soll schon passieren, ich muss ja nur fix zum Bahnhof. Also, nützt ja nichts: ich springe aus dem Fenster, ohne mich umzuschauen, und lande unsanft in der Gasse. Prompt ertönt rechts von mir ein Fluchen, Poltern, Quietschen, […]

Der Fuchs und der Alte

Nur weil ihr die Straßen nach euch benennt, heißt es nicht, dass ihr diese Wege als erste gegangen seid. Lange bevor die Häuser am Straßenrand aus dem Boden schossen wie Sumpfdotterblumen im Frühling, lief meine Sippe, geduckt und mit der Nase im Wind hier flußaufwärts, zwischen der kleinen Quelle im Wald und der Niederung am Fluß hin und her. Unsere Pfaden sind für euch unsichtbar im Unterholz, sie zu gehen heißt, sich lautlos und schnell zu bewegen, nur von Instinkten geleitet. Anders ist es bei euch. […]

Auftragsarbeit: Sommer 1995

Ich kassierte ab oder sortierte Pappen im Hinterzimmer, während meine Mutter vorn am Tresen stand und mein Vater hinten im Studio. Ich flitzte zwischen dem Kühlschrank voller Kodak- Filmen und den teuren Studiokameras hin und her und wusste: wenn ich groß bin, werde ich Fotograf. Astronaut konnte ja jeder werden. […]

Erzähl den Bienen davon

Durch einen Schleier aus Flussufernebel
sehe ich den Winter vorübergehen,
um einen würdevollen Abschied bemüht.
Die wilden Rosen, die dürre Schlehe,
sie neigen ihre Köpfe
in Anteilnahme
doch in hohlen Händen
verbergen sie heimlich
das erste Grün. […]

Herr Sommer

“Ey, deine Zeit ist rum!”, ruft der Nachbar über den Zaun, und Herr Sommer verdreht genervt die Augen.
“Ja doch”, knurrt er und erhebt sich träge aus dem Plantschbecken. Irgendwie ging es dann doch immer schnell vorbei. Es kam ihm vor wie vorgestern, dass er noch im Becken gelegen und zugesehen hatte, wie sich die Wespen über die Äpfel des Nachbarn hermachten. […]

Auftragstext: Die Bremer Stadtmusikanten — eine musikalische Groteske

Das sind natürlich Menschen wie Du und ich, die sich da zusammentun: Eddy Grau, Nele Kleff, Max Schnurr und Paula Gallo. Die vier sind nicht nur auf Facebook befreundet, sondern haben im echten Leben ’ne kleine Revolte angezettelt. Wie es dazu kam? Na, fangen wir mal mit Eddy Grau an. Der Name passt zur Haarfarbe. Eddy ist Bierbrauer und Mälzer von Beruf und hatte sich jahrelang für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns eingesetzt.. Eddy ist jetzt Mitte 50, und in der Brauerei, wo er arbeitet, haben sie richtig gute Tarifverträge. Er hätte sich damals also beruhigt zurücklehnen können. Aber er wusste halt auch schon immer, dass diese ganze Wirtschaft dauerhaft nur funktioniert, wenn wirklich alle überall gut bezahlt werden. Deshalb ist er bei so gut wie jeder Aktion seiner Gewerkschaft mit dabei. Wenn er sich ein Tattoo stechen lassen würde, würde es lauten: „Fight for your Rights!“. […]

Oma

du warst einst der Sommer
Deine Hände wie Brombeerranken
Zwei Kirschkerne deine Augen
Schilfrohre die Beine
Haut aus Birkenrinde
deine Worte glänzende Krallen […]

Wir sind die Reisenden

Ich bin nicht allein, denke ich
als ich die Leiter erklimme und wundere mich
weshalb ihr Angst habt und ich nicht
Ich schließe meinen Helm und öffne die Schleuse
draußen dröhnt die Welt, in meiner Kapsel ist es ganz leise
Das Schiff ist beladen, der Kurs programmiert.
Ich frage mich: kann man Abschied nehmen
ohne zu bedauern, was man verliert? […]