Der Fuchs und der Alte
Nur weil ihr die Straßen nach euch benennt, heißt es nicht, dass ihr diese Wege als erste gegangen seid. Lange bevor die Häuser am Straßenrand aus dem Boden schossen wie Sumpfdotterblumen im Frühling, lief meine Sippe, geduckt und mit der Nase im Wind hier flußaufwärts, zwischen der kleinen Quelle im Wald und der Niederung am Fluß hin und her. Unsere Pfaden sind für euch unsichtbar im Unterholz, sie zu gehen heißt, sich lautlos und schnell zu bewegen, nur von Instinkten geleitet. Anders ist es bei euch. Füchse beten zu nichts und niemanden, aber wir erkennen eine Gottheit, wenn wir eine sehen. Ihr nennt sie Straßen, wir nennen sie die große graue Schlange, die ihr Menschen mehr verehrt als alles andere. Die Schlange ist gierig und gefährlich und finden ihren Weg bis in die hintersten Winkel unserer Wälder. Doch jeder Pfad kann in zwei Richtungen gelaufen werden. Von der Niederung zur Quelle und von der Quelle zur Niederung. Von der Stadt in den Wald – und vom Wald in die Stadt.
Ich bin ein Stadtfuchs. Dort geboren, wo ihr nicht hinschaut, in einem verlassenen Garten unter einem alten Betonpfeiler, geschützt vor Regen und Wind und euren Blicken. Meine Muttersmutter war die erste, die nachts vom Wald in die Siedlung schlich, in die üppigen Gärten mit den tausend fett gefütterten Wühlmäusen, mit meiner Mutter als Welpe im Schlepptau. Meine Muttersmutter starb zwei Winter später, unter einer Kiefer tief im Wald, doch meine Mutter blieb hier, in den wilden Winkeln der Stadt. Meine Geschwister und ich, wir kennen nichts anders als eure Hinterhöfe, Garagenzeilen, Vorgärten. Wir wühlen uns durch euren Müll, stehlen eure Hühner, wir erschrecken eure Katzen, machen einen Bogen um eure Hunde. „Listig wie ein Fuchs“, so redet ihr über uns, und meint doch meistens euch selbst.
Ich bin nicht listig, ich bin hungrig.
Das Gefühl kennt ihr doch auch. Hunger. Nicht alle von euch, ja, aber ich bin nicht die einzige, die im Hinterhof des Supermarktes die Tonnen umschleicht und durchwühlt. Mehrmals habe ich dort einen alten Mann gesehen, mit Haut wie die einer alten Erle und langen, verfilzten rotbraunen Haaren, die mich an die Zeit erinnert, als meine Geschwister und ich ein untrennbares Knäul an Fell und Pfoten waren. Vielleicht bin ich deshalb nicht geflohen, als er zum ersten mal in den Hinterhof kam, als ich auch da war. Ich beobachte ihn aus meinem Versteck zwischen den alten Paletten heraus, wie er geschickt die Tonnen öffnet, die für mich ein beinah unüberwindliches Hindernis darstellen; wie er seine Plastetüte füllte mit noch mehr Plaste und Essensresten, alten Brötchen, weichen Äpfeln. Manchmal lässt er auch etwas fallen, direkt neben die Tonne, eine Packung Salami, ein altes Brot, und ich weiß nicht, ob er ungeschickt ist, oder ob er mich in meinem Versteck gesehen hat. Sobald er den engen Hof verlies und mit kleinen, langsam Schritten durch die Gasse in Richtung der Hauptstraße schlurfte, kam ich aus meinem Versteck, denn ich konnte meine Gier nicht mehr in Zaum halten; ich rannte hinüber zur Tonne und verschlang gierig das Brot, wusste, dass ich später davon Schmerzen im Bauch haben würde, aber das war egal, es war hier und es lag da, der süße Geruch betäubte all meine Instinkte. Ich packte die Wurstpackung mit den Zähnen, biss kleine Löcher hinein, und sofort strömte der Geruch nach Fleisch heraus und machte mich fast wahnsinnig vor Hunger. Ich zerrte und riss und warf es auf den Boden, versuchte, mit meinen Krallen die Packung zu zerfetzen, doch es wollte mir nicht gelingen. Ich wurde rasend, versuchte, in die Tonne zu klettern, sie umzuschmeißen, bis ich außer Atem war und meine Flanken bebten. Der rote Schleier vor meinen Augen verblasste, und meine Sinne kehrten zu mir zurück. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, im plötzlichen Wissen, dass ich beobachtet wurde. Ja, da war er: am Ende der Gasse stand der alte Mann, gebeugt wie ein Baum im Sturm, und betrachtete mich mit großen, dunklen Augen. Für einen Moment verhakten sich unsere Blicke wie Zähne im Nackenfell, ob im Kampf oder im Spiel, das wusste ich nicht zu sagen. Ich konnte seinen Herzschlag hören, ein unrhythmisches, schnelles Stolpern. Sein Geruch schien mir vertraut, bräunlich grün, er roch nach Erde und vergorenen Früchten. Wir blickten uns an und erkannten einander. Nicht listig. Nur hungrig.
Dann machte er einen Schritt auf mich zu, und meine Instinkte diktierten die Flucht. Ich rannte geduckt durch das kleine Loch in der Mauer auf der Rückseite des Hinterhofes, ohne mich noch einmal umzublicken, und schämte mich nachher für meine kopflose Flucht. Ich mied den Ort für einige Tage, bis der Hunger wieder zu stark war, doch als ich zurückkehrte, waren die Tonnen im Hinterhof und das Tor zur Straße mit schweren Vorhängeschlössern gesichert. Hungrig verließ ich den Hof durch das Loch in der Mauer, um das sich niemand gekümmert hatte, vielleicht, weil es zu klein war, als dass ein Mensch sich hindurchzwängen konnte.
Den Erlenmann habe ich nie wieder gesehen, obwohl ich auf meinen Streifzügen durch die Stadt immer wieder glaubte, seinen Geruch zu wittern, an der Bushaltestelle unter der Brücke, in einer unbeleuchteten Seitenstraße bei Nacht; einen Hauch nur, der sofort verschwand, wenn ich innehielt, fest entschlossen, nicht zu fliehen.